Ernährung bei Diabetes ist individuell
Mit einer Mitteilung der Bundesärtzekammer ist es amtlich. Es gibt keine einheitliche, für alle gleich gültige Diabetes-Ernährung. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Ernährung bei Diabetes jetzt individuell gestaltet werden darf. Nur eine Frage sei doch mal erlaubt: „War das nicht schon immer so?“
Menschen sind einzigartig
Ich kann mich gut erinnern, an meine Patienten mit Diabetes in der Universitätskinderklinik. Das Mädchen aus Sri Lanka, das mit 6 Jahren Diabetes bekam, mit der ich damals das „Handmodell“ entwickelte, weil wir mit Händen und Füssen kommunizieren mussten, da die gesamte Familie einen speziellen Dialkt sprach und die Mutter Analphabetin war; der Junge, der zuerst Zöliakie und dann noch Diabetes bekam, das Mädchen in der Pubertät, das unter strikter Diät, die ein Arzt verordnete, noch eine Essstörung entwickelte, der Junge, der sein Diabetesbüchlein verbrannte und hoffte, seinen Diabetes damit „vergessen“ zu können. Ich erinnere mich an meinen jüngsten Patienten, ein kleiner Junge für deren Eltern ich „Das Rucksäckchen – Ein Mutmachbuch“ schrieb.
Diabetesernährung war immer individuell und wird es immer sein – maßgeschneidert, wie ein gut sitzendes Kleid
All diese jungen Menschen hatten bereits damals nur Eines gemeinsam: Nein, nicht den Diabetes, sondern, dass sie verschieden waren. Und so verschieden, wie sie waren, so verschieden waren auch ihre Essgewohnheiten, ihre Lebensumstände, ihre Wünsche und Bedürfnisse, ihre Hobbys, Interessen und nicht zuletzt die Insulintherapie, die zu ihnen passte. So verstand es sich schon vor mehr als 20 Jahren von alleine, dass diese Menschen individuell beraten und begleitet wurden. Ich kann mich gut an einen Satz eines damaligen kooperierenden Diabetologen erinnern. Er sagte mir: „Sonja, die Diabetesbehandlung hat sich den Menschen anzupassen, nicht umgekehrt. Und wenn das Leben der Menschen, in das Du mehr Einblick hast als ich, es erfordert, passen wir die Insulintherapie entsprechend an.“ Daran habe ich mich bis heute gehalten.
Was bedeutet individuelle Ernährung?
Bereits damals habe ich das deutsche Behandlungssystem nicht verstanden. Es gab nur BE (Broteinheiten) und es schien, als drehe sich die gesamte Ernährung um die Verteilung irgendwelcher BE´s über den Tag, so als ob der Mensch nur KH essen würde. Auf den „Rest“ wurde nicht einmal ein Blick geworfen. In der Schweiz arbeiteten wir bereits damals mit BW, MW, OW, GW, EW, FW, sprich mit der gesamten Palette der Lebensmittelgruppen und befragten die Menschen zunächst nach Ihren Gewohnheiten, bevor wir gemeinsam mit dem Patienten, Arzt, der Diabetesfachschwester und der Ernährungsberatung an einem individuellen „Kleid“ nähten, das sowohl dem Patienten, als auch der Diabetes-Einstellung gerecht wurden aber stets auf den Regeln für eine gesunde, ausgewogene Ernährung von Gesunden aufbaute.
Manchmal war die Ernährung fettreicher, manchmal waren mehr Kohlenhydrate nötig oder manchmal war eine deutliche Einschränkung notwendig, um unnötige Blutzuckerspitzen zu verhindern, was dann durch mehr Eiweiß ausgeglichen wurde, damit die Patienten eine länger andauernde Sättigung hatten. Und manchmal wurde die Ernährung vollständig neu angepasst, weil ein junges Mädchen abnehmen wollte; ein junger Mann einfach nur zur Peergruppe dazugehören wollte und für „Ausnahmen von der Regel“ fit gemacht werden musste, oder ein Tag chillen am Wochenende ein ganz anderes System erforderte, als ein Tag an dem der Diabetes-Patient einen Sportwettkampf zu bestreiten hatte.
Also, was genau soll an diesen Empfehlungen für eine individuelle Ernährungstherapie und die empfohlene „Lebensstilberatung“ neu sein? Kann es sein, dass Deutschland geschlafen hat? Es sieht ganz danach aus!
Gießkanneninstruktion scheint es noch heute zu geben
In der vergangenen Woche war ein Mann bei mir. Insulinpflichtiger Diabetiker mit starkem Übergewicht. Es war erstaunlich. In der Klinik hat er viel über BE gelernt und dass er „nicht zu viel Kohlenhydrate“ und „nichts Süßes“ essen dürfe, doch das Wesentlichste hat man ihm offenbar nicht beigebracht. Die Beachtung seiner Körpersignale und keinesfalls zu fasten, wenn er sich das Bolusinsulin gespritzt hat und das unbedingte Einhalten eines Spritz-Ess-Rhythmus. Er aß nur einmal pro Tag, obwohl er 3mal spritzte (!) und verfiel regelmäßig in Hypoglykämien tagsüber und Fressatacken mit riesigen Essensmengen am Abend mit katastrophalen Werten in der Nacht und am frühen Morgen. Seine Insulinresistenz war beachtlich. Für 1 BE benötigte er mittlerweile 4 Insulineinheiten, doch das schien bis jetzt niemanden gestört zu haben. Ebensowenig wusste er, wie viel schnellwirkendes Insulin er benötigt, um seinen Blutzucker auf Normalwerte runterzuspritzen und hatte bis anhin nicht eine einzige Beratung die seinen Essrhythmus mit ihm anschaute, oder seine „Süßlust“ betrachtete. Verbote wurden zwar ausgesprochen, aber dem Patienten wurde keinerlei Unterstützung angeboten, die Probleme hinter den immensen Süßigkeitsmengen anschauen. Man ließ ihn einfach alleine in seinem zerstörerischen Teufelskreis. Masseninstruktion durch DiabetesSCHULUNG, anstatt individueller Beratung und Begleitung von Anfang an. Ich würde mal sagen: Da war man in der Schweiz bereits vor 20 Jahren klüger!
Es gibt also noch viel zu tun, denn gesagt ist noch lange nicht verstanden und verstanden noch lange nicht umgesetzt und umgesetzt noch lange nicht beibehalten. Diabetesberatung kann folglich nur individuell sein und ist als Begleitung zu betrachten. Mit Wissensvermittlung ist es nicht getan.
Wie Sie einen sehr guten Diabetesberater erkennen? Es ist ganz einfach: Wenn er mehr redet, als Ihnen zuzuhören, wenn er mehr belehrt, als Fragen nach Ihrem Lebensstil, Ihren Gewohnheiten zu stellen, sollten Sie am besten nach einem neuen Berater Ausschau halten, denn wie sagte einst ein kluger Arzt: „Die Diabetesbehandlung und Ernährung muss sich an den Menschen anpassen, nicht umgekehrt.“
[...] Geht es nur noch um Schein, um Hülle, um den großen Laufsteg, um “wer ist die Schönste im ganzen…