DSC03221Die Wissenschaft sagt…

Bei vielen Senioren lassen die Ernährungsgewohnheiten zu wünschen übrig. Durch Verzehrserhebungen und biochemische Untersuchungen wurde ermittelt, dass Senioren zu selten hochmolekulare Kohlenhydrate, Ballaststoffe, ungesättigte Fettsäuren und pflanzliches Eiweiß essen und auch viele Vitamine und Mineralstoffe wie Calcium, Jod und Zink stünden bei Senioren zu selten auf dem Tisch. Hingegen sei die Energiezufuhr und der Fettanteil der Nahrung eindeutig zu hoch. Soweit das Allgemeine.

 

Aus der Praxis…

Während die Wissenschaft behauptet, dass der allgemeine Senior wohl zu viel an Energie zu sich nimmt, sieht es bei Regina S. anders aus. Seit Sie ihr Gebiss verloren hat, magert sie ab. Sie kann nicht richtig beißen und der Appetit auf „Breikost“ ist ihr auch vergangen. Ihr neues Gebiss bekommt sie in ungefähr 4 Wochen. Sie sagt: „Ein Glück habe ich ein paar Polster, auf die ich jetzt zurück greifen kann.“

Frau P. kommt mit ihrem Mann zur Beratung. Seit Kurzem hat er „eine Unverträglichkeit“ und sie vermutet ein „Reizdarmsyndrom“.  Bei genauer Anamnese stellt sich heraus, dass diese Senioren mitnichten zu wenig hochmolekulare Kohlenhydrate und Ballaststoffe essen, sondern zu viel! Seit Herr P. in Rente ist, möchte Frau P. es mit der gesunden Ernährung richtig gut machen und serviert Ihrem Mann und sich Frischkornbreie zum Frühstück, backt Vollkornbrote und trinkt viel Gemüse und Obstsäfte. Auf Fett verzichtet sie und sorgt somit unbewusst für eine schlechtere Verträglichkeit, dieser großen Mengen an Kohlenhydrate,  bei sich und ihrem Mann.

Anton ist dement. Seine Frau kocht so gut es geht, doch Anton „vergisst“, dass er gerade gegessen hat und hat „vergessen“, was Durst ist. Er trinkt so gut wie nichts, isst dafür umso mehr, besonders Käse ist seine Leidenschaft. Den holt er sich mehrere Male aus dem Kühlschrank, weiß davon aber hinterher nichts mehr. Stattdessen fragt seine Frau Helga viele Male täglich: „Wann gibt es endlich etwas zu essen. In diesem Haus verhungert man ja.“  Jegliche Appelle an die Vernunft verhallen und führen zu nichts. Ein Kalziummangel hat Anton nicht, dafür mehr und mehr Probleme mit dem Gewicht.

Ernährungsempfehlungen sind Empfehlungen spiegeln den Durchschnittsbedarf aller Senioren wieder und der Durchschnittsverzehr wird durch Durchschnittserhebungen ermittelt, doch diese drei Fälle zeigen, dass diese Empfehlungen mit dem tatsächlichen Verzehr des Einzelnen noch nichts zu tun haben müssen.

Den einzelnen Menschen ins Zentrum rücken

Auch wenn es verlockend ist, allgemeine Empfehlungen helfen nicht wirklich, das Ess- und Ernährungsverhalten des Einzelnen zu analysieren, zu diagnostizieren und gegebenenfalls zu korrigieren. Pflegefachkräfte, Angehörige müssen trotz Kenntnis von Empfehlungen und allgemeinen Richtlinien, den einzelnen Senior im Blick behalten, denn Menschen essen nicht nach Vernunft-Regeln, sondern wie sie es wollen, vermögen, können und gewohnt sind. Darauf muss auch in der Pflege Rücksicht genommen werden, denn nur dann können wirklich nachhaltige, gangbare und passende Lösungen gefunden werden. Da vom individuellen Essen zur Deckung von individuellen oder gar allgemeinen Bedarfen ein weiter Weg ist, möchte ich an dieser Stelle Pflegefachkräfte ermutigen, dass sie darauf bestehen, mit dem Thema „Seniorenverpflegung“ nicht alleine gelassen zu werden. Um ein genaues  Ernährungs-Assessment, eine genau Ernährungsdiagnostik und damit einhergehende Interventionen durchzuführen, ist es erforderlich, eine spezialisierte Ernährungsfachkraft im Team zu haben, oder eine solche Fachkraft zu Rate zu ziehen, denn der Weg vom Wissen zum Tun ist ein weiter – für alle Beteiligten.

Denn wie wusste bereits der Verhaltensforscher Lorenz?

Gedacht heißt nicht immer gesagt,/ gesagt heißt nicht immer richtig gehört,/ gehört heißt nicht immer richtig verstanden,/ verstanden heißt nicht immer einverstanden,/ einverstanden heißt nicht immer angewendet,/ angewendet heißt noch lange nicht beibehalten.(K. Lorenz, östr. Verhaltensforscher und Nobelpreisträger)

Stellen wir folglich unseren je individuellen Senior ins Zentrum unserer Fürsorge, anstatt uns allzu sehr auf die Botschaften von allgemeinen Empfehlungen zu verlassen.

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