DSC03218Wer Menschen mit demenziellen Erkrankungen betreut, mit der Versorgung betraut ist, der kommt nicht selten an seine Grenzen, weil „vernünftige Argumente“ hier mit ganz besonderer Vehemenz scheitern und nicht selten zu großer Anspannung bei allen Beteiligten führt. Hier in diesem Beitrag möchte ich ein wenig über den gängigen wissenschaftlichen Tellerrand blicken.

Ich stehe am Bett nebenan und beobachte folgende Szene. Eine Pflegerin ist damit beschäftigt, Frau X ihr Abendessen zu geben. Es ist 16.30 Uhr. Sie sagt: „So Frau X. wir müssen jetzt wieder etwas essen und etwas trinken. Schauen Sie mal, was es hier leckeres gibt.“ Sie hält ihr den Bissen vor den Mund und Frau X dreht den Kopf weg. „Frau X. ich mache mir wirklich langsam Sorgen um Sie. Sie müssen doch etwas essen! Und getrunken haben Sie auch den ganzen Morgen noch nicht. Machen Sie doch bitte den Mund auf, ich meine es doch nur gut.“ Frau X. schaut die Pflegerin an und schlägt ihr die Gabel, die vor ihrem Mund darauf wartet, aufgenommen zu werden, mit der linken, funktionierenden Hand einfach aus der Hand. „Frau X. ich habe nicht nur für Sie Zeit. Es warten noch andere Leute, auf mich.“ Nach 5 Minuten gibt die Pflegekraft auf und zieht davon. Das volle Tablett bleibt bei Frau X. stehen. Ähnliche Szenen kenne ich von meiner Mama. Sobald das Essen serviert ist, kommt der Satz wie aus der Pistole geschossen: „Ich esse aber nichts!“ und etwas später: „Also, ich will aber nichts.“

Die rationale Sicht – „Alles ist erklärbar?“
Wer den Alltag mit Demenz kranken Menschen kennt, dem dürften solche oder ähnliche Szenarien rund um die Nahrungsaufnahme nicht fremd sein. Essen und Trinken nimmt sehr häufig einen übergebührlich großen Raum ein, „weil Betroffene doch essen und trinken müssen“. So lautet eine der rationalen Begründungen, die sich durch eine Vielzahl weiterer Begründungen und Ursachenforschungen erweitern ließen. (Vertiefende Informationen finden Sie unter den am Ende des Textes aufgeführten Links)
Das kann so gesehen werden, doch ist damit erklärbar, weshalb ES (das Essen) bei einer anderen Pflegerin „kein Thema“ ist und auch bei meiner Mutter ein deutlich wahrnehmbarer Unterschied bestand, zwischen Mahlzeitensituationen an denen mein Vater beteiligt ist, oder ich? Und ist damit erklärbar, weshalb das Essensthema bei uns mittlerweile fast keines mehr ist, weil mittlerweile alle in unserer Familie diese „unverständliche Sprache“ des „Ich esse aber nichts!“ verstanden haben?

Essen ist mehr als ein Vernunftakt.
In diesem Artikel soll es nicht um die „rationalen“ Erklärungs- und Lösungsversuche gehen, sondern darum, ein „verborgenes“, „nicht sichtbares“ Phänomen zu entschlüsseln, wie eine Fremdsprache die man erst verstehen muss, um adäquat darauf zu reagieren.
Ich kenne dieses Phänomen sehr gut im Umgang mit Kleinstkindern, die an sogenannter „Fütterungsstörung“ oder „Essverweigerung“ leiden. Man erkennt erst, was ist, wenn wir uns von rationalen Erklärungsversuchen lösen und „Das GANZE“, also Essen, Mahlzeit und auch denjenigen, der füttert mit in die Betrachtung einbeziehen.
Wenn wir den Blick nicht mehr nur auf den Betroffenen selbst, seinen Körper, seinen Bedarf, seine Appetitlosigkeit, Befindlichkeit, Stimmung und seinen Nährstoffbedarf lenken, sondern Nahrungsaufnahme immer auch als soziales, emotionales Ereignis betrachten, dann erhalten wir ein vollkommen anderes Bild.
Manche Mahlzeiten sind schlicht und ergreifend einfach eine Zumutung.
Wie wusste es bereits der französische Dichter trefflich auszudrücken:

«Wenn ich gut gegessen habe, ist meine Seele stark und unerschütterlich;
daran kann auch der schwerste Schicksalsschlag nichts ändern.»
Jean Baptiste Molière (französischer Dichter)

Doch anstatt sich um „gutes Essen“ zu kümmern, sind die meisten modernen Menschen mittlerweile mit „gesunder Ernährung“ beschäftigt. Ein nicht zu unterschätzender Aspekt, dem auch heute noch nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Dieses Essen „spricht nicht an“. Hier wird zwar „ernährt“, auf Kalorien und Nährstoffe geachtet, eine gewisse Konsistenz berücksichtigt und einen Mahlzeitenrhythmus, doch seien wir mal ehrlich: Sowohl von der Darreichung, von der Farbgebung, vom Geschmack, von der SINNlichkeit sind diese Gerichte einfach eine einzige Katastrophe! Ein solches Gericht zu verzehren macht keinen Appetit und damit auch keinen Sinn, egal ob Hunger wahrgenommen wird, oder nicht.
Menschen mit Demenz wollen uns vielleicht manchmal mit ihrer Ablehnung folgendes sagen: „Ich habe mein ganzes Leben liebevoll gekocht, mir Mühe mit Mahlzeiten gegeben, gut für meine Liebsten gesorgt und jetzt bekomme ich solch einen Schweinefraß vorgesetzt und soll das auch noch genüsslich verspeisen? Diesen Gefallen mache ich Euch nicht!“
Doch das einzige Ausdrucksmittel, das sie haben, ist vielleicht ein Kopf wegdrehen, ein „Ich esse aber nichts.“, ein „zum kotzen“ oder eine angewiderte Mimik oder Handbewegung an den Tag zu legen, oder das ganze Tablett mit einer „ungeschickten“ Bewegung auf den Boden zu schmeißen.
Könnte es also sein, dass die „Ess- und Trinkverweigerung“ von Frau X. auch mit dem Verhalten der Pflegerin zu tun hat? Könnte eine nicht sichtbare Stimmung, die Art der Bindung, die Menschen zueinander haben, erklären, weshalb beispielsweise meine Mama bei ihrem Ehemann häufiger ein lautes „Nein“ von sich gibt, als bei mir, ihrer Tochter?

In einem weiteren Beitrag informiere ich über die emotionale und soziale Verortung des Essens sowie über das Recht auf Selbstbestimmung und echte Zuwendung.

Mein Angebot für Fachkräfte:
Seminare für Einrichtungen zu „Dementielle Essverweigerung verstehen und damit umgehen“

Mein Angebot für Angehörige:
ONLINE-Beratung. Ich schenke Ihnen Zeit und schenke Ihnen mein Ohr. Rufen Sie mich an. Gerne unterstütze ich Sie darin, Ihren geliebten Menschen fürsorglich zu begleiten, ohne sich selbst dabei zu vergessen.

Internet Links

Weitere Informationen finden Sie hier:

Wegweiser Demenz

AOK-Bundesverband GbR – Essen und bewegen
Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. – Essen und Trinken bei Demenz

 

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