Was genau verbirgt sich hinter „ich vertrage nicht“ Thematik, die keine ist?
So wie Essen sehr individuell ist und nur verstehbar auf dem geschichtlichen Hintergrund des einzelnen Menschen, so sind die Gründe für ein inszeniertes „ich vertrage nicht“, ohne dass dieses in irgend einer Weise verifiziert worden wäre, sehr verschieden.
Hier einige Hypothesen:
1. Der Mensch hat es Leid ein Massenmensch zu sein.
„Ich möchte als einzigartiger Mensch gesehen werden.“
Du sollst, du musst, du darfst nicht. Unsere Welt ist voll von solchem Regelwerk, was dem Individuum enge Grenzen setzt. Egal ob Autos, Wohnen, Smartphones, Konsumgüter, wo in Urlaub, welcher Arbeitgeber, was muss getan werden um Gesundheit und ein langes Leben zu erlangen…Wo man hinschaut dieses Du sollst…das Menschen mehr oder weniger als Fremdbestimmung ausmachen.
Selbst die Mode ist heute nicht mehr Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, sondern mehr und mehr ein Diktat. „Man muss mithalten, mitmachen“, um dazu zu gehören. Also wo können sich Menschen noch frei entfalten, freie Entscheidungen treffen, wie ein Kleinkind seine erwachende Identität kundtun (Anna mag nicht, Anna will nicht, Anna isst nicht…) als beim Essen? Der eigene Teller ist und bleibt eines der letzten Refugien der Selbstbestimmung kombiniert mit einer besonderen individuellen Note.
2. Menschen wollen echte Aufmerksamkeit
„Nimm mich wahr. Nimm mich ernst. Beachte mich und meine Wünsche“
Meine Wahrnehmung ist, dass hinter einer Fassade besonderer Höflichkeit und Angepasstheit, sich eine Angst verbirgt, seine Wünsche wahrzunehmen, zu äußern, auch mal anzuecken oder gar einen Konflikt zu riskieren. Diese Angst hat in der Leistungsgesellschaft m.E. deutlich zugenommen. Menschen fühlen sich verunsichert, trauen sich nicht „zu zeigen“ wie sie sind. Emotionen und Stimmungen sind „unprofessionell“, echte Aufmerksamkeit häufig nur dann gegeben, wenn etwas NICHT funktioniert…
Was liegt da näher, als über eine „Erkrankung“ Rücksicht und Aufmerksamkeit einzufordern und gleichzeitig ein Terrain zu haben, wo man selbst die Kontrolle behält?
3. „Empfindlich sein“ ist unprofessionell – es sei denn, man ist krank
Jetzt bleiben Sie doch mal sachlich. Jetzt seien Sie doch nicht so empfindlich. Der Meier ist ein Weichei…..Hart und leistungsfähig ist er, der moderne Mensch, aber keineswegs emotional, sensibel oder empfindsam. Doch wie immer in der Welt. Der Mensch sucht sich Nieschen, wenn er in seinem Sein zu sehr eingeschränkt wird. Und da seit einigen Jahren, die Aktivitäten der Gedärme kein Tabuthema mehr ist und auch die Befindlichkeit dank social media nicht mehr Privatsache ist, sondern öffentliche Akzeptanz gefunden hat, liegt es nahe, zumindest dort die „sensible“ Seinsart auszuleben.
Oder anders ausgedrückt. Da viele Menschen verlernt haben, sich selbst zu spüren, selbst wahrzunehmen, ist es bereits als Fortschritt anzusehen, dass man zumindest jedes Bauchgrummeln, jeden Darmwind auf die Befindlichkeitswaage legt, sozusagen als Brückenschlag zu den sonst so tief vergrabenen Gefühlen und empfindsameren Seiten.
4. Das Angebot bestimmt die Nachfrage
Während wir in der Klinik vor 20 Jahren noch selbst unsere Laktose freien Milchen angerührt haben, boomt heute der Produktmarkt regelrecht und auch eine verbesserte Diagnostik trägt dazu bei, dass Menschen glauben, es gäbe heute mehr Betroffene, als vor 20 Jahren. Doch die Zahlen sind konstant. Eine Befragung zeigt auch, dass nicht nur Menschen mit Laktoseintoleranz diese Produkte kaufen, sondern weitaus mehr. Dasselbe gilt für glutenfreie Ware. In den Staaten gaben auf eine Befragung der NPD-Group 28% an, kaum oder nie Gluten zu essen, obwohl sie gar keine Zöliakie hatten. Doch wie kommt es, dass gesunde Menschen freiwillig diätetische Produkte verzehren, die ihnen nachweislich keinerlei Mehrnutzen bringen, dafür aber bis zum doppelten Preis kosten?
Gesundheit ist seit einer Kampagne der WHO zur Bürgerpflicht geworden und die Szene gaukelt uns vor, dass Gesundheit herstellbar sei, wenn man nur das „Richtige“ täte und das „Falsche“ unterlässt.Was also Kranken hilft, kann ja Gesunden nicht schaden oder könnte ja dazu beitragen, noch gesünder, noch leistungsfähiger zu werden, so denken sich viele moderne Menschen heutzutage, wo doch alles machbar und herstellbar scheint (Yes we can). Die verwirrenden und teilweise aggressiven und suggestiven Werbebotschaften der Produzenten sprechen dabei nicht nur Betroffene an, sondern auch diejenigen, die ihre Gesundheit, wie ein Projekt „optimieren“ wollen. Wie früher die Werbebotschaft „fettfrei“ wird heute „glutenfrei“, „laktosefrei“ , „Fructosefrei“, als Qualitätssigel missverstanden, nicht zuletzt auch deswegen, weil diese diätetischen Produkte nahe der Bioprodukte stehen. All das ist jedoch Teil von ausgeklügelten Marketingstrategien, um den Verkauf auch dort anzukurblen, wo überhaupt kein Bedarf besteht.
5. Neue Feinde braucht der Mensch?
Nicht was drin ist ist, wichtig, sondern was nicht drin ist
Während über viele Jahrzehnte wichtig war, was in Produkten DRIN ist, hat sich die Sicht auf Lebensmittel vollkommen verkehrt. Heute wird darauf geachtet, was NICHT drin ist. Nicht über das IST entsteht Sicherheit (viel Vitamine, viel Mineralstoffe), sondern mehr und mehr über das FEHLEN VON – eine Sicht, die bereits vor 20 Jahren seine Ursprünge in den USA hatte (no cholesterol, no suger, low fat), so als gelte es permanent Feinde im Essen ausfindig machen und eliminieren zu müssen.
Haben wir etwa zu wenig Schwierigkeiten, zu wenig Feinde, zu wenig Herausforderungen und Abenteuer, dass wir uns permanent neue suchen müssen – auch beim Essen? Könnte es sein, dass gerade in unserer sich sehr schnell verändernden, globalisierten Welt die Verunsicherung wächst, das Misstrauen zunimmt? Wir begeben uns auf philosophisches Territorium…
6. Gesundheitsberater und Ernährungskommunikatoren
Seit Krankenkassen nicht mehr Krankenkassen, sondern Gesundheitskassen heißen; seit die WHO nicht nur die Krankheiten vermeiden will, sondern Gesundheit herstellen, seit nicht mehr die Genesung und Gesundung, sondern Gesundheitsförderung ins Zentrum gerückt wird, sind sie da: Nicht die Krankenschwestern, die Ärzte, die Berater und Therapeuten, sondern die Gesundheitsberater, Ernährungscoachs. Sie predigen Gesundheit und ihre Rechnung geht auf. Die Gläubigen folgen in der Hoffnung auf noch mehr, noch bessere, noch langandauernde Gesundheit, denn Gesundheit ist Pflicht und Ausdruck von Vitalität und Leistungskraft. Wer krank wird, ist selbst schuld oder hat sich nicht genug „angestrengt“. So glaubt der moderne Mensch heute und der Mensch der Antike reibt sich verwundert die Augen…
Längst treten Lebensmittelkonzerne, der Lebensmittelhandel als neue Gesundheitsberater auf. Dort informiert „man“ sich darüber, was „gesund“ und „ungesund“ ist. Längst hat die „Ernährungskommunikation“ (Informationen über Ernährung), die Privatheit von Essen und die medizinische Betrachtung von Ernährung als Heilmittel abgelöst. ,“Gesundheit“ ist zum Geschäft geworden; Krankheit kein Thema mehr – zumindest solange man nicht selbst betroffen ist. Und da das, was man besonders häufig und besonders „laut“ hört in unserer Erinnerung bleibt, verwundert es nicht, dass die Werbebotschaften funktionieren. „Ich helfe dir, ich sorge für dich“, weil uns deine Gesundheit wichtig ist…
Und dann sind da noch die „Celebritys“. Sie twittern von ihren Diäten. Heute ist Gluten Mist, morgen wirkt eine Laktosefreie Ernährung Wunder und übermorgen ist vegane Ernährung überhaupt der Jungbrunnen schlechthin. Seriöse Berater und Ärzte müssten zigtausende Euro für Werbekampagnen ausgeben und dennoch ist ein einziger Satz eines „Stars“ wirkungsvoller, als sämtliche Werbemaßnahmen dieser Welt – mit ein Grund, weshalb Lebensmittelkonzerne und der Handel immer mehr auf diese Werbeträger setzen.
Ärzte machen keine Werbung, professionelle Berater werben nicht im Fernsehen oder werden als Werbung in social media eingeblendet. Das heißt, der Anbietermarkt wird künstlich verzerrt mit all seinen Nebenwirkungen. Sie sind den Menschen noch nicht einmal bewusst.
7. Die Macht des Placebo
Glauben versetzt Berge und wer glaubt sich mit Spezialdiät etwas Gutes zu tun, dem tut das gut tun auch gut. Könnte es sein, dass darin insbesondere das Heilmittel liegt? Sich Gutes tun, gut auf sich achten, liebevoll mit sich umgehen, weil dies die Grundvoraussetzung dafür ist, dass wir aufmerksam mit anderen, liebevoll mit anderen umgehen?
Nur – ist es zu rechtfertigen, dass dieses gut für sich sorgen ganz natürliche Substanzen, wie Milchzucker, Fruchtzucker, Histamin und Gluten zu Feinden erklären muss? Das ist eben die Frage, denn wer sich zu sehr diesen Diäten unterwirft, ohne dass sie notwendig sind, gibt wieder ein Stück Selbstbestimmung auf und „ordnet sich unter“ – etwas, was doch eigentlich vermieden werden sollte. Und wenn es um Einzigartigkeit geht? Wenn heute fast jeder zu diesen Produkten greift, ist man längst nicht mehr etwas besonderes, sondern wieder einer von Vielen….einer mit Laktoseunverträglichkeit oder einer anderen „ich vertrage nicht“ Thematik.
Sollten Sie eher den Wunsch nach
> Genuss
> Balance
> wenig Einschränkung
> Selbstbestimmung und
> individuellem Ess- und Ernährungsweg
beim Essen suchen,
so sind meine professionellen KollegInnen und ich gerne für Sie und Ihre Liebsten da.